Rückblickend betrachtet
Liebe Gemeindeglieder, liebe Leser*innen,
in den 50er Jahren des 21. Jahrhunderts erzählen Großeltern ihren Enkeln möglicherweise mal folgende atemberaubende Geschichte:
„Es war im April 2020. Die Straßen deutlich leerer als sonst, die meisten Geschäfte geschlossen, Leute hatten plötzlich Zeit. Die Natur atmete auf. Die Blumen blühten, die Sonne schien – der Himmel so blau wie schon lange nicht mehr. Die Wahrnehmung nahm zu, das Sehen und Hören wurde mehr.
Es war im April 2020. Und am Nachmittag spielte man im Haus und im Garten. Es war das Jahr, in dem man nur zum Einkaufen raus gehen durfte.
Fast alles geschlossen. Auch Büros, Hotels und Bars. Ausgänge und Grenzen wurden bewacht. Das Jahr, in dem man entdeckte, dass es auch kleinere Geschäfte gibt. Die eigene Welt war auf das Wesentliche reduziert.
Es gab nicht genügend Platz mehr für alle in den Krankenhäusern. Und die Leute wurden krank. Und manche von Ihnen starben. Die Natur holte sich das Ihre zurück und die Luft wurde klarer. Die großen Schiffe lagen im Hafen, die Flugzeuge brauchte keiner mehr. Alte und Junge, der Gesundheit wegen ans Haus gebunden. Es war nicht möglich, in die Zukunft zu denken.

Doch der Natur war es egal, die Blumen blühten weiter. Es wurde wieder Freude daran entdeckt, gemeinsam zu essen, zu schreiben und zu reden. Man ließ der Fantasie freien Lauf und aus Langeweile wurde Kreativität. Doch auch manche Einsamkeit brach sich Bahn.
Etliche lernten eine neue Sprache. Manche entdeckten die Kunst. Andere, dass sie gern was abgeben von ihrer Kraft und sich dankbar zeigten. Es war das Jahr, in dem man die Augen zudrückte und Fünfe gerade sein ließ. Wichtiges von Unwichtigem unterschied. Und sich vor allem Zeit nahm.
Der Eine merkte, dass er längst schon getrennt war vom Leben und fand zu sich zurück. Der Andere hörte auf, arrogant zu handeln. Neid verblasste allmählich, denn in diesem Jahr waren alle gleich. Die Konkurrenz und die Macht legten sich, denn man begegnete sich nicht mehr direkt.
Es war das Jahr, in dem man die Bedeutung der Gesundheit und des wahren Leidens erkannte und vielleicht auch seine eigene Berufung. Seinen Auftrag, um dem Sinn und der Erfüllung im Leben nach und nach ein Stück näher zu kommen. Das Jahr, in dem die Welt am Ende zu sein schien. Und die Wirtschaft den Bach runterging.
Einige gingen auf die Straße, machten ihrem Ärger Luft, fühlten sich bevormundet, ihrer Freiheit beraubt. Sämtliche Vorsichtsmaßnahmen wurden ignoriert. Doch solcher Leichtsinn rächte sich und auf einmal gingen die Zahlen wieder deutlich nach oben.
Und trotzdem: Die Welt hörte nicht auf, sie erfand sich neu. Und ein Gefühl von Sinn lag über allem. Und die Natur bekam ihre Seele zurück, Strände und Wälder menschenleer – und ein Zaunkönig sprang von einem Ast zum anderen. Und dann – nach einem ganzen langen Coronajahr kam er also doch noch – jener so sehr herbeigesehnte Tag, an dem allen gesagt wurde, dass es vorbei sei und das Virus verloren habe.
Und die Menschen gingen erneut auf die Straße. Wieder ohne Masken und Abstand. Doch diesmal mit Tränen in den Augen. Umarmten den unbekannten Nachbarn als sei er unser Bruder, unsere Schwester. Man schrieb damals das Jahr 2021. Es kam der Sommer. Und es war so seltsam anders. Anders als alle Sommer zuvor. Und die Welt drehte sich und das Leben ging weiter. Trotz allem. Trotz des Virus. Trotz der Angst. Trotz des Todes.
Die Schöpfung Gottes lehrte allen die Kraft des Lebens. Den Geist. Den ewigen Atem. Und den Hauch, der in uns steckt. Am Ende wird alles gut. Und wenn es noch nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende.“
Die Enkelin hatte aufmerksam zugehört. Ist bis zum Schluss sitzen geblieben. Erstaunlich für dieses Alter. Und fragte dann Oma und Opa: „Kann sowas heute nochmal passieren?“ – Die Großeltern erwiderten: „Wir hoffen nicht – doch wer von uns weiß das schon…“
Ein klein wenig nachdenklich grüßen Sie alle inmitten der Ferienzeit verbunden mit der ausdrücklichen Bitte, gerade in diesen Wochen nicht leichtsinnig zu werden,
Ihre Pfarrer Wolfgang Popp und Gerd Schamberger